Sonntag, 12. Oktober 2008

Vom kleinen und vom grossen Glück

Selten zuvor in meinen bisherigen 40+ Jahren habe ich den langen Abschied von den letzten Sonnenstrahlen eines Sommers so intensiv empfunden wie dieser Tage auf dem Naschmarkt oder gerade jetzt am PC. Von nun an geht es definitiv bergab, bin ich mir sicher. Ich spüre sie schon heraufdräuen, die graue Depression, die mich mit Beginn der Winterzeit regelmäßig befällt und ihren Höhepunkt finden wird, wenn die Händler wie immer viel zu früh ihre Adventkränze aufs regennasse Trottoir legen. Daher sonnenhungrige Weiberrunde gestern am Naschmarkt: vier Schwestern 40+ und geschätzte 16 Spritzer und Sturm.

„Ich habe immer davon geträumt, lesend im Wohnzimmer zu sitzen, mit einem Partner, der ein Zimmer weiter dasselbe tut“, sinniert Journalistenkollegin Gitte beim dritten Spritzer, „und dann kommt er, und fragt, ob er mir etwas Interessantes vorlesen dürfe. Oder ich frage ihn, ob ich ihm ein paar Zeilen vorlesen könne.“ Dass sich der Knabe im Kabinett natürlich nicht die Autorevue oder die Bedienungsanleitung eines neuen Flat Screens reinzieht, sondern mindestens Pascal Mercier´s Nachtzug nach Lissabon, versteht sich an dieser Stelle von selbst.

Was haben wir uns nicht alles erträumt oder erhofft von unseren Partnerschaften, als wir außer biegsamen Leibern zumindest rein rechnerisch auch noch die Chance auf die goldene Hochzeit hatten? Da wären einmal die längst entwichenen Tagträume von blühenden Gärten und einer Kinderschar; die Vorstellung vom Männchen, das sich ab und an zu einem Event mitschleppen lässt und dort zumindest aus Liebe gute Figur und Konversation macht; nicht zu vergessen die ewige Vision vom Traummann, der in der Küche im Rhythmus zu Paolo Conte gekonnt frische Kräuter hackt, liebevoll sein Schmorgut betrachtet und trotzdem zwischen Charlotten und Karkassen noch Zeit findet, frau ein Glas Rotwein einzuschenken und sich ihre Ergüsse anzuhören.

Steffi hat den erträumten Meisterkoch gefunden, der mit Leidenschaft aufwändige 4-Gang-Menüs zaubert – allerdings nicht nur für sie, sondern auch für die eigene verzogene Tochter und deren stets anwesenden postpubertären Freunde und Freundinnen, allesamt Jobhopper. Das Völkchen verwandelt die Wohnung des Meisterkochs mit seinen Joints und Zigaretten in eine kommunenähnliche Opiumhöhle, in der Steffi nicht nächtigen kann, ohne dass des Meisterkochs Töchterlein nächtens in das Schlafzimmer kracht wie eine Kurzstreckenrakete, um in der Schmutzwäsche nach irgendwelchen Leggings zu kramen oder Papa um Geld zu bitten.

Gitte fand ihren Vorleser mit 40+ tatsächlich – und hat gestern nach kurzer Beziehung mit ihm Schluss gemacht, weil frau vom Vorlesen und der Erfüllung romantischer Mädchenträume wenig hat, wenn sie wie ein Stück Dreck behandelt wird und langsam aber sicher ihr Selbstwertgefühl verliert. „Wenn mich Gerhard noch will, heirate ich ihn“, beschloss Gitte nach dem vierten Spritzer. Gerhard war ihr Ex, den sie nach acht gemeinsamen Jahren verlassen hatte, weil er zwar gut zu ihr war, ihr aber nicht vorgelesen sondern mit ihr im besten Fall gewürfelt hatte. Sehr verkürzt formuliert.

Wenn sie heute ihr kleines Glück zurückbekäme, würde sie das wohl als großes Glück empfinden. Wobei natürlich festzuhalten bleibt: Nur da man langsam auf die Menopause oder gar die Rente zusteuert, bedeutet das natürlich noch lange nicht, dass frau nicht weiter auf das große Glück hoffen darf oder sogar muss, und es sich natürlich auch greifen muss, wenn es ihr vor der Nase baumelt. Doch oft entpuppt sich das große Glück nur als intensive Erfahrung mit kurzem Ablaufdatum. Der Vorleser wäre das ideale Nebengeräusch gewesen, eine Affaire, nach deren automatischem Ende Gitte entspannt an das heimische Würfelbrett hätte zurückkehren können.

Genauso entspannt wie ich es heute bin, da meine Vision von der Kinderschar mit dazupassendem Männchen nicht Realität wurde. Ein geerbtes Monster allein treibt mich heute schon täglich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs, eine Monsterschar hätte inzwischen aus mir eine Kindsmörderin oder zumindest Psychiatriepatientin werden lassen. Und der Umstand, dass das Sozialkonstrukt Events und VIPs auch fünfzehn Jahre später als im besten Fall vernachlässigbar betrachtet, ist inzwischen als großer Glücksfall zu klassifizieren. Denn entsprechende Zusammenrottungen verursachen mir inzwischen im günstigsten Fall Juckreiz. Was täte ich heute mit einem Partytiger? Ich will es mir gar nicht vorstellen, hab ich ein Glück.

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