Mittwoch, 16. Juli 2008

Macht uns Realität krank?

Heute habe ich mir Zeit gestohlen, die ich eigentlich gar nicht habe. Mir war nach einem ausgedehnten Frühstück am Naschmarkt - nur in Begleitung meiner Tageszeitung und der druckfrischen Ausgabe eines überteuerten Wohnmagazins in Hochglanzqualität. Erstere machte mir in erschreckender Deutlichkeit klar, dass nicht nur meine Augen sondern auch die Zeiten immer schlechter werden; letztere ließ mich dann eintauchen in eine quasi „heile Welt“, in der es trotz erschreckender Teuerungsraten und wackelnder US-Banken scheinbar doch noch glückliche Hausbesitzer und ihre im Hintergrund gut beschäftigten Innenausstatter gibt.

Die Eskapismustheorie, wonach ja unter anderem schwachsinnige TV-Serien mit Zahlencode-Titeln (Eva-Maria 4/278 oder Welke Tulpen III/1408) uns armen Weibern deshalb so gefallen, weil wir darob unserem trögen Alltag entfliehen können, sollte unbedingt auf diese Flittchen des Printsektors ausgedehnt werden. Der Vorteil der Printflittchen: Sie erscheinen im Schnitt nur ein Mal pro Monat oder gar Quartal, während die Tresorkombinationen täglich in mehrfacher Ausführung über den Bildschirm flimmern. Meiner unbedeutenden Meinung nach sind deren Skripts bei weitem noch schwachsinniger als Artikel über mediterrane Kräuter für die sommerliche Gartenparty oder Bäder, die Finca-Charme vesprühen sollen.

Als mein Organismus altersbedingt noch leistungsfähiger war und mein Tagesablauf noch nicht von meinem geerbten pre-pubertären Monster unangenehm gelenkt wurde, hatte ich manchmal Zeit und entsprechende Nerven, um die Dinge in meiner Wohnung zu „platzieren“, wie es Steffi hämisch bezeichnet. „Schnell fotografieren, bevor etwas umfällt!“ ätzte mein Sozialkonstrukt (© Sozialkonstrukt) anno dazumal über meine Arrangements, heute befindet er: „Bei uns sieht es aus wie bei Hempels unter´m Sofa“.

Ich „platziere“, „dekoriere“ geschweige „dekoriere neu“ schon lange nichts mehr. Heute bin ich froh, wenn die Pflanzen auf den Terrassen überleben und die Ameisen die Fressreste der Katzen erst entdeckt haben, wenn genug Gift im Haus ist. Vielleicht aber sollte ich den lästigen Viechern erlauben, ihre Straßen ohne chemischen Eingriff zu bauen, vielleicht ergeben diese über kurz oder lang auch ein „bewegtes Muster, das Finka-Charme versprüht“.

Die hundert Kilo Altpapier, die das Monster im Lauf des Schuljahres als Arbeitsblätter überantwortet bekam (Hefte wurden scheinbar in den späten Siebzigern des vorigen Jahrhunderts abgeschafft.), eignen sich definitiv nicht zur Dekoration des Piano. Ich könnte den Schrott natürlich im Monsterkäfig lagern, aber das bedeutete Kontrollverlust. Absolute Kontrolle über Lernerfolge versus „märchenhaftes Ambiente mit verspielten Einzelstücken“.

Im Kreis meiner so wunderbaren wie nervtötenden Freundinnen 40+ gibt es nur Sissy, die regelmäßig diese Printflittchen liest – und deren Wohnung tatsächlich ansatzweise so aussieht, wie von einer der Hochglanzseiten gerutscht. Keine Ahnung, wie sie das macht. Ich kann nur vermuten, dass sie auch beim Betreten ihrer Wohnung der Realität entflieht will, während ich ihr (fast) jeden Augenblick die Stirn biete. Fragt sich, was davon gesünder ist.

1 Kommentare:

likepax hat gesagt…

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